Die Rede ist von der Gruppe der Hochsensitiven: Der Kollege, der still in einer Ecke sitzt, muss nicht zwangsläufig so introvertiert sein, wie Sie glauben. Die Mitarbeiterin, die in der Mittagspause lieber alleine einen Spaziergang im Park macht, statt sich in der Kantine mit den Kollegen und Kolleginnen auszutauschen, muss nicht unbedingt scheu sein oder schmollen. Es kann gut sein, dass beide hochsensitiv sind und deshalb mehr Zeit und Ruhe brauchen, um eine Informationsmenge zu verarbeiten, die den meisten anderen Kollegen gar nicht bewusst ist.
Wissenschaftlich aufgearbeitet wurde das Thema Hochsensitivität – oder genauer: high sensory-processing sensitivity – erstmals von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron im Jahr 1997, die ihre Erkenntnisse in dem Werk „The Highly Sensitive Person“ veröffentlicht hat. Seither wächst das Bewusstsein für das Thema und das damit verbundene Potenzial für die Arbeitswelt, in der immer häufiger die Mitarbeiter das entscheidende Differenzierungsmerkmal am Markt sind.
Doch was genau ist Hochsensitivität?
Menschen sind am leistungsfähigsten, wenn sie ausreichend stimuliert, aber nicht überfordert sind. Dann stellt sich das vielzitierte „Flow“ Erlebnis ein, das uns effizient und effektiv sein lässt. Diese Schwelle ist aber nicht für alle Menschen gleich. Durch eine bestimmte neurologische Besonderheit und damit eine höhere Empfindlichkeit des Nervensystems, haben hochsensitive Personen weniger ausgeprägte Wahrnehmungsfilter, als nicht hochsensitive Menschen. Vereinfacht kann man sagen, dass hochsensitive Menschen Sinnesreize wie Geräusche, Licht, Gerüche, Temperaturen, aber auch Stimmungslagen bei sich und anderen intensiver und schneller wahrnehmen als andere.
Diese Eindrücke werden zudem auch tiefer verarbeitet und führen deshalb schneller zu einer Reizüberflutung und damit einer Überstimulation, als bei nicht hochsensitiven Menschen, was häufig zu einem höheren Bedarf an Regenerationszeit führt. Vergleichbar ist das ganze mit unterschiedlichen Bildauflösungen in der Fotografie, wobei Hochsensitivität einer hochauflösenden Bilderfassung und deutlich datenintensiveren –verarbeitung entspricht.
Es handelt sich dabei nicht um eine erworbene, sondern um eine angeborene Eigenschaft, von der 15 – 20 % der Gesamtbevölkerung betroffen sind. Hochsensitivität unterscheidet sich dabei grundlegend von Schüchternheit oder Introversion – auch wenn dies nach außen auf den ersten Blick oft so wirken mag. Tatsächlich sind aber rund 30 % der hochsensitiven Menschen sogar extrovertiert.
Nun gibt eine ganze Reihe sehr positiver Aspekte von Hochsensitivität, welche im unternehmerischen Kontext wesentlich zu einer höheren Qualität in Bereichen wie der Zusammenarbeit, der Kommunikation, der Kundenorientierung, oder der Innovation beitragen und so für Unternehmen letztlich zu den bereits erwähnten Wettbewerbsvorteilen führen können. Dazu gehören häufig eine überdurchschnittlich gute Intuition, eine natürliche Problemlösungskompetenz und Kreativität, eine hohe Feinfühligkeit und Fähigkeit zur Empathie, ausgeprägte Gewissenhaftigkeit und Verlässlichkeit, eine gute Detailwahrnehmung, ein ausgeprägter Sinn für Ästhetik, sowie tiefe Reflexionsfähigkeit und die Fähigkeit zum Denken in großen Zusammenhängen.
Hochsensitive Menschen sind zudem durch ihre intensivere Wahrnehmung und Verarbeitung von Information wertvolle Vorreiter im Umgang mit Faktoren wie zu hoher Arbeitsbelastung und Veränderung, die im realen Arbeitsalltag letztlich alle Mitarbeiter irgendwann betreffen. Ähnlich wie im Weinbau, wo oftmals Rosen als Frühwarnsystem an die Enden der Rebenreihen gepflanzt werden, weil diese früher auf schädliche Umwelteinflüsse reagieren.
Leider ist Sensibilität vor allem in den westlichen Kulturen eher negativ behaftet. In Kulturen, in denen der Lauteste und der Schnellste gewinnt, wird Sensibilität häufig mit Schwäche und geringer Belastbarkeit gleichgesetzt, was in diesem Zusammenhang schlicht unzutreffend ist. Gerade in Extremsituationen reagieren Hochsensitive sogar häufig besonnener und gelassener und zeigen eine höhere Belastbarkeit, als andere.
Doch nicht überall auf der Welt wird Sensibilität so gesehen. Eine kürzlich in Kanada durchgeführte Studie kam zum Ergebnis, dass hochsensitive Kinder in Kanada deutlich häufiger von ihren Spielkameraden gemobbt und gehänselt werden, als andere Kinder. Im Gegensatz dazu gehören hochsensitive Kinder in China und anderen Asiatischen Ländern zu den beliebtesten, verhaltensunauffälligsten und klügsten unter ihren Kameraden und genießen hohes Ansehen. Es gibt also durchaus bemerkenswerte kulturelle Unterschiede im Umgang mit Hochsensitivität.
Diese Ergebnisse können wichtige Erkenntnisse für die Arbeitswelt liefern. Alles andere als schwach und wenig belastbar, verfügen hochsensitive Führungskräfte und Mitarbeiter über Stärken wie Tiefe und Weitblick, welche Unternehmen z. B. dabei unterstützen können, wohlüberlegte statt übereilte Entscheidungen zu treffen. Sie können besonders in Positionen, wo hohe Kreativität und Empathie, oder hohe Lösungsorientierung und Verlässlichkeit gefragt sind, einen wesentlichen Unterschied machen. Denn wie im Mannschaftssport ist es das Zusammenspiel verschiedener Spieler mit unterschiedlichen Neigungen, das den Erfolg ausmacht. Im Zuge eines erhöhten Bewusstseins für Diversität in Unternehmen gehört somit auch das Thema Hochsensitivität mit auf die Agenda.
Menschen haben verschiedene Bedürfnisse und brauchen unterschiedliche Arbeitsbedingungen, um ihr volles Potenzial für das Unternehmen einbringen zu können. Solange KPIs (Key Performance Indicators) die Leistung von Mitarbeitern aber daran messen, wie aktiv jemand sich in Meetings einbringt und wie schnell jemand Entscheide trifft, dann werden 15 – 20 % der Belegschaft gegenüber allen anderen benachteiligt. Oder wie schon Albert Einstein sagte: „Jeder ist ein Genie. Wenn man aber einen Fisch nach seiner Fähigkeit beurteilt auf einen Baum zu klettern, wird er sein ganzes Leben lang denken, er sei dumm.“
Wirkliche Höchstleistung wird nur dann möglich, wenn alle Verhaltensstile und Neigungen vertreten, verstanden, respektiert und für ihren einzigartigen Beitrag zum Ganzen wertgeschätzt werden. Um das zu erreichen, brauchen wir eine insgesamt humanere Arbeitswelt, in der im übrigen auch die eigene (Hoch-)Sensitivität von Führungskräften und deren kompetenter Umgang mit sich selbst für die entscheidenden unternehmerischen Wettbewerbsvorteile eine wesentliche Rolle spielt.
Sie sind selbst hochsensitiv, oder vermuten es zu sein? Haben Sie hochsensitive Mitarbeiter in Ihrem Team und möchten diese dabei unterstützen, ihre Potenziale besser zu nutzen? Melden Sie sich gerne für ein erstes klärendes Gespräch.