Coaching 3.0 – aus Unternehmen bald nicht mehr wegzudenken

So steigern Sie den Mehrwert von Coaching in Organisationen durch Stakeholder-zentriertes Coaching

Von Thomas Gelmi und Thomas Freitag

Coaching gilt heute unbestritten als wichtiges Element in der Landschaft der professionellen Personal- und insbesondere Führungskräfteentwicklung. So sind sich die meisten HR-Verantwortlichen, Coaches und Coachees darin einig, dass Coaching einen wesentlichen Mehrwert für Unternehmen schafft. Gleichzeitig sind viele HR-Profis auch der Meinung, dass Coaching in Zukunft durchaus noch mehr nachhaltigen Wert schaffen kann.

Der evolutionäre Schritt zu Coaching 3.0

Coaching hat sich in den letzten Jahren spürbar weiterentwickelt. Vom ursprünglich im vertraulichen Rahmen zwischen Coach und Coachee ablaufenden Prozess, den wir als Coaching 1.0 bezeichnen möchten, hin zu Coaching 2.0, wie es heutzutage in der Unternehmenswelt meist praktiziert wird: Zusätzlich zum Tandem-Coach und Coachee kommt der direkte Vorgesetzte und/oder HR als weitere Interessengruppe dazu – und damit ein erweitertes Coaching-System. In diesem Dreiersystem werden die Coaching-Ziele mit den Zielen der Unternehmung verknüpft. Im Coaching-Vertrag werden diese Ziele festgeschrieben und am Schluss in der Regel in einem Dreiergespräch ausgewertet.

Coaching 3.0 als nächster evolutionärer Schritt erweitert konsequent das Coaching-System mit zusätzlichen Stakeholdern. Im von Dr. Marshall Goldsmith entwickelten „Stakeholder Centered Coaching“ werden die wichtigsten Stakeholder des Coachees von Anfang an in den Verlauf des Coaching-Prozesses eingebunden. Zum Kreis der das Coaching unterstützenden Stakeholder gehören weiterhin der direkte Vorgesetzte sowie Kollegen (Peers), Mitarbeitende und weitere sinnvolle Kontakte. Ziel ist dabei die Unterstützung der Entwicklung des Coachees durch die im Tagesgeschäft direkt davon Betroffenen.

Stakeholder – was macht sie so wichtig?

Bei Verhaltensveränderungen von Führungskräften sind einige Herausforderungen zu überwinden, die in erster Linie mit der menschlichen Wahrnehmung zu tun haben. Diese ist nämlich nicht, wie wir es gerne hätten, objektiv und unbelastet, sondern verzerrt. Drei Arten der Wahrnehmungsverzerrung möchten wir an dieser Stelle näher beleuchten, da sie im Zusammenhang mit einem erfolgreichen Coaching-Prozess eine entscheidende Rolle spielen.

1. Die Negativ-Verzerrung (Negativity Bias)

In unseren Coaching-Gesprächen arbeiten wir gerne mit Skalierungsfragen: „Auf einer Skala von 1 bis 10, wenn 10 das Erreichen des angestrebten Ziels beschreibt und 1 den Ausgangspunkt – wo stehen Sie jetzt gerade auf dieser Skala?“ Angenommen, die Antwort ist 7. Eine Mehrzahl der Menschen lenkt im nächsten Schritt natürlicherweise die Aufmerksamkeit auf all das, was noch fehlt bis zur 10. Alles Negative, alles, was noch fehlt und nicht so ist, wie wir es gerne hätten, wirkt für unsere Aufmerksamkeit wie ein Magnet – während wir für alles Positive und die Dinge, die bereits ansatzweise in die richtige Richtung gehen, beinahe teflonbeschichtet zu sein scheinen. Ein schönes Tibetisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Ein Baum, der fällt, macht mehr Lärm als ein ganzer Wald, der wächst.“

Im Coaching ist das Steuern der Aufmerksamkeit auf die positiven Veränderungen – und seien es nur kleinste – für einen nachhaltig erfolgreichen Entwicklungsprozess entscheidend. Dies gilt in noch grösserer Ausprägung für Stakeholder-zentriertes Coaching 3.0, weil hier ein ganzes Coaching-System Gefahr läuft, die Welt des Coachees zu negativ zu sehen. 

2. Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias)

Stellen Sie sich bitte folgendes vor: Sie beschliessen, das kleine Restaurant auszuprobieren, das vor einiger Zeit in Ihrem Ort eröffnet hat. Sie freuen sich darauf, doch das Erlebnis ist leider alles andere als berauschend, denn sowohl das Essen als auch der Service lassen aus Ihrer Sicht zu wünschen übrig. Und so beschliessen Sie, nicht mehr dort zu essen und meiden das Restaurant künftig. Nach einiger Zeit wird das Restaurant von einem neuen Wirt übernommen. Die Qualität des Essens verbessert sich dadurch massiv und gut geschultes, freundliches Servicepersonal kümmert sich nun um das Wohl der Gäste. Sie würden staunen, welch kulinarisches Gesamterlebnis heute dort angeboten wird – wenn Sie es denn wüssten. Denn solange Sie davon nichts erfahren, tragen Sie noch immer Ihren schlechten Eindruck mit sich herum. Wenn Sie an dem Restaurant vorbeifahren, nehmen Sie es immer noch durch diesen Filter wahr, obwohl das gar nicht mehr der Realität entspricht. Was braucht es also? Stimmt – jemand muss Sie darauf aufmerksam machen. Ein Schild „Neueröffnung“ oder „Under New Management“ wird Ihre Wahrnehmung des Lokals verändern und Sie geben ihm möglicherweise eine zweite Chance.

Die Kognitionspsychologie bezeichnet dieses Phänomen als „Bestätigungsfehler“ (Engl: Confirmation Bias) und meint damit die menschliche Neigung, Informationen so auszuwählen, zu suchen und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen und das bisherige Bild bestätigen. Unbewusst ausgeblendet werden dabei Informationen, welche die eigene Erwartung widerlegen, also insbesondere neues Verhalten. 

Doch genau auf sich positiv veränderndes Verhalten wollen wir in einem Entwicklungsprozess die Aufmerksamkeit eigentlich lenken. Stakeholder-zentriertes Coaching 3.0 stellt sicher, dass verschiedene Augen, Ohren und Sinne auf den Coachee schauen und Verhaltensveränderungen wahrgenommen werden.

3. Der Kaffeefilter-Effekt (Wahrnehmung ist subjektiv)

Sie können sich unsere Wahrnehmung auch als Filterprozess vorstellen: In einen Kaffeefilter fliesst oben fast 100 Grad Celsius heisses Wasser. Unten kommt ein braunes Getränk heraus mit knapp 90 Grad Celsius – je nach Maschine und Geschmack des Kaffeetrinkers ist dies Filterkaffee, ein Ristretto oder ein Lungo Forte. Im Filter bleiben erstens Informationen (Temperatur, Kalkpartikel, ev. Schmutz) hängen. Zweitens wird das heisse Wasser im Brühprozess mit Aromastoffen, Farbstoffen und natürlich auch mit Koffein angereichert. Die zuerst reduzierte Information wird also im übertragenen Sinne „gefärbt“. Dieselben Effekte gibt es in unserer Informationswahrnehmung: Wir nehmen nur einen Teil der Informationen wahr und interpretieren diese Informationen mit unserem ganz individuellen Kaffeefilter bzw. Weltbild. 

Im Stakeholder-zentrierten Coaching 3.0 werden mehrere Sichtweisen auf dieselbe Ausgangsinformation gerichtet. Dadurch werden tatsächlich existente Verhaltensveränderungen weniger subjektiv herausgefiltert. Die unterschiedlichen Interpretationen der Stakeholder ergeben zusammen einen besseren „Blend“. 

Diese oben aufgezeigten Wahrnehmungsverzerrungen müssen bewusst gestaltet werden, um den Nutzen von Coaching weiter zu optimieren. 

Verhaltensänderung ist nur die halbe Miete

Coaching-Prozesse basieren häufig auf Leadership Assessments und fokussieren in der Folge auf Massnahmenplanung. Die Führungskraft versteht intellektuell, wo eine Veränderung ihres Führungsverhaltens wünschenswert ist und erkennt auch, wie diese Veränderung zu mehr Effektivität führt. Obwohl dieser Schritt zu Beginn eines Coaching-Prozesses zur Definition der Veränderungsabsichten entscheidend ist, endet er leider oftmals in einer langen Liste guter Absichten, die grösstenteils niemals das Tageslicht erblicken. Und selbst wenn sie umgesetzt werden, so bedeutet das deshalb noch lange nicht, dass sich auch die Wahrnehmung des Umfelds verändert und die beabsichtigte Veränderung tatsächlich wahrgenommen wird.

Stakeholder aktiv einbinden

Diese Wahrnehmung ist jedoch letztlich für den Erfolg eines Coaching-Prozesses mitentscheidend. Stakeholder-zentriertes Coaching 3.0 führt den Prozess deshalb um einen entscheidenden Schritt weiter: über den Tellerrand des Executive-Büros hinaus und in das Arbeitsumfeld der Führungskraft mit ihren diversen Interessengruppen (Engl.: Stakeholder).

Diese Stakeholder werden von Anfang an in den Prozess mit eingebunden und können so wichtige und hilfreiche Erkenntnisse und Empfehlungen für Verhaltensänderungen liefern. 

Doch damit nicht genug: durch diese aktive Einbindung verändert sich auch gleichzeitig die Wahrnehmung der Stakeholder, denn diese achten nun bewusst auf positive Veränderungen im Führungsverhalten der Führungskraft. Haben die Stakeholder nämlich gegenüber anonym ausgestalteten Coachings Kenntnis von den Coaching-Zielen und der Unterstützung, können Verhaltensveränderungen eher gesehen und auch verstanden werden. Beispielsweise ist der Chef nach dem als „Privat“ bezeichneten externen Termin nicht auf einmal so „anders“, sondern man kann als Peer oder Mitarbeiter nachvollziehen, dass eine Entwicklung stattfindet. Diese Form von Executive Coaching bietet durch ihre nachhaltig wahrgenommene Umsetzung von Veränderungen in der Praxis einen echten Mehrwert – denn Wahrnehmung ist Realität.

Bewährt in der Praxis: der Prozess

Der Stakeholder Centered Coaching-Ansatz folgt einem klar strukturierten Prozess, der sich in der Praxis bereits hundertfach bewährt hat. Zu Beginn steht eine Standortbestimmung, die einerseits aus dem klassischen 360-Grad-Assessment besteht. Dafür wurde von Marshall Goldsmith ein entsprechendes Instrument entwickelt, das besonders für Führungskräfte im Corporate-Umfeld geeignet ist und als „Global Leader of The Future“, kurz GLOF, bekannt ist. Doch auch andere Tools können hier natürlich eingesetzt werden, insbesondere wenn ein Unternehmen bereits ein entsprechendes Instrument im Einsatz hat. Dieses strukturierte Assessment wird ergänzt durch Verhaltensinterviews, die der Coach mit den 6-8 wichtigsten Stakeholdern des Klienten führt. Diese Interviews dienen in erster Linie dazu, mehr konkrete Beispiele und Erfahrungen in die Standortbestimmung mit einzubeziehen. Zudem dienen sie einem ersten vertrauensbildenden Kontakt zwischen Coach und Stakeholdern, bei dem deren Unterstützung in der Entwicklung der Führungskraft entsprechend gewürdigt und die Bereitschaft zum weiteren Engagement im Prozess gefördert werden kann.

Die gesammelten Informationen werden entsprechend anonymisiert und in einem Bericht zusammengefasst, den der Coach mit der Führungskraft bespricht. Der Klient wählt daraus anschliessend ein bis maximal zwei konkrete Entwicklungsfelder für den Coaching-Prozess aus. Diese präsentiert er daraufhin in einem Stakeholder Briefing, sodass diese wissen, woran die Führungskraft in den kommenden Monaten arbeiten wird.

Von hier aus startet der eigentliche Coaching-Prozess, der aus einem sich monatlich wiederholenden iterativen Prozess aus drei Phasen besteht:

In Phase eins wendet sich der Coachee an die Stakeholder und holt Feedback und sogenanntes Feedforward ab. Vorstellen kann man sich das wie die Fahrt in einem Auto: Durch den Rückspiegel sehe ich, woher ich komme, was dem Feedback entspricht. Um dem Negativity Bias Rechnung zu tragen, heisst die entsprechende Frage: „Welche positive Entwicklung haben Sie in meinem Führungsverhalten in den letzten vier Wochen beobachtet?“ Es wird also nach positiven Veränderungen in der Vergangenheit geforscht. Durch die Frontscheibe sehe ich, wohin ich fahre und wie ich die nächsten Kurven nehmen muss, was dem Feedforward entspricht. Die Frage hier heisst: „Was kann ich in den nächsten vier Wochen tun, um unsere Arbeitsbeziehung noch effektiver zu gestalten?“ An dieser Stelle wird der Stakeholder vom Betroffenen zum Beteiligten, indem er aktiv zum Entwicklungsprozess beitragen kann. Zudem nimmt er eine weitere wichtige Rolle ein. Um beim Bild des Autofahrens zu bleiben: Genauso wie im Aussenspiegel des Autos ein toter Winkel existiert, haben wir in unserem Verhalten blinde Flecken. Bereiche also, die uns nicht bewusst sind, von anderen aber wahrgenommen werden. 

Das Feedback und Feedforward der Stakeholder sowie der Austausch mit dem Coach schaffen hier Abhilfe und führen zu einer Reduktion der blinden Flecken. Genaugenommen hat der Coachee also nicht nur einen Coach als Sparringspartner, sondern alle Stakeholder unterstützen ihn als Reflexionspartner.

In Phase zwei werden die Inputs der Stakeholder von der Führungskraft reflektiert und mit dem Coach besprochen. Der Coach ist hier in seiner klassischen Rolle und unterstützt den Klienten mit entsprechenden Fragestellungen und Methoden sowie bei der Analyse und Synthese der diversen Rückmeldungen der Stakeholder. Der Klient entscheidet sich wiederum für einige wenige Schwerpunkte, auf die er oder sie in der nächsten Periode besonderes Gewicht legen will.

Aus den jeweiligen Coaching-Sitzungen heraus resultiert ein entsprechender Aktionsplan, der als Grundlage für die praktische Umsetzung in Phase drei dient. Hier schliesst sich der Kreis, indem nach einem Monat wiederum die informelle Stakeholder-Befragung erfolgt. Diese kann im Übrigen durchaus informell bei einem Kaffee, am Telefon oder – wenn nicht anders möglich – ausnahmsweise auch via E-Mail erfolgen.

Der gesamte Prozess läuft in der Regel über 12 Monate. Während dieses Zeitraumes werden die Stakeholder zwei- bis dreimal über eine strukturierte Onlineabfrage, den sogenannten Leadership Growth Progress Report oder kurz LGPR, nach deren Einschätzung des Entwicklungsprozesses befragt. Dadurch entsteht letztlich eine strukturierte, standardisierte und messbare Bewertung der beabsichtigten Veränderung aus Sicht der betroffenen Stakeholder.

Zusammengefasst:

1. Stakeholderzentriertes Coaching 3.0 bezieht die Wahrnehmung der wichtigsten Stakeholder in einem Veränderungsprozess mit ein und steuert diese bewusst auf die entsprechende Veränderung. Dadurch wird der Coaching-Erfolg in der Form wahrgenommener Verhaltensveränderungen messbar, denn Wahrnehmung ist Realität. 

2. Durch den Einbezug der Stakeholder werden Betroffene zu Beteiligten gemacht, was das Engagement und die Qualität der Beziehungen positiv beeinflusst und das gegenseitige Vertrauen stärkt. 

3. Neben der Entwicklung des Klienten wird das Bewusstsein der Stakeholder für die Entwicklung geschärft und eine nachhaltige Feedbackkultur im Unternehmen gefördert. Durch das dadurch entstehende Engagement wird die Qualität der Zusammenarbeit und die Produktivität gesteigert und dadurch nachhaltiger Mehrwert für das Unternehmen generiert. Es entsteht eine Win-win-win-Situation für den Klienten, die Stakeholder und das Unternehmen.